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Rede des Regierungspräsidenten
Gedenken an den 9. November 1938

Gruppenfoto

Familie Weinberg 1927, Vera hintere Reihe 4. v.r. , helles Kleid, weißer Kragen; © Villa ten Hompel, Dep. 446 (Sammlung Gisela Möllenhoff/Rita Schlautmann-Overmeyer)

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Rede des Regierungspräsidenten anlässlich der Gedenkstunde zum 9. November 1938 in der Synagoge Münster

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen bewahrt eine Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Münster mit dem Aktenzeichen 6 Js 176/48 aus den Jahren 1948 und 1949 auf.

Gegenstand der Ermittlung: 
Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Tatverdächtig:
Ehemalige Münsteraner SA-Männer.

Tat-Zeitpunkt:
9. November 1938.

Zwischen Mai und September 1948 vernahm der damalige Kriminalpolizei-Obermeister Caspar Brinkmann insgesamt 32 Zeugen und Tatverdächtige.

In der Akte findet sich das Protokoll einer Zeugenvernehmung vom 19. Mai 1948.

Auf dem II. Kriminalkommissariat erschien die Witwe Vera Goldschmidt.

Vera Goldschmidt, geboren 1891 in Münster, wohnte mit ihrer 85-jährigen Mutter an der Klosterstraße 21, rund 120 Meter von der Synagoge entfernt.

In ihrer Zeugenvernehmung schildert Vera Goldschmidt, wie sie am 9. November 1938 gegen 23.30 Uhr zur brennenden Synagoge lief, wo eine große Menschenmenge antisemitische Hetzlieder sang, Gebetsmäntel und die Thorarolle herumwarf sowie Kerzenleuchter und Kunstgegenstände stahl.

Innerlich erschüttert lief Vera Goldschmidt von dem Brand eilends zur ihrer Wohnung zurück.

Weiter heißt es in dem Vernehmungsprotokoll, ich zitiere:

„Kaum dort angekommen, kam eine Horde von 18-20 Personen, die SA-Uniform trug, das heißt überwiegend, in unser Haus gestürmt, nachdem man vorher die Haustür mit Äxten eingeschlagen hatte. Ebenso auch die Fenster.

Einer der Eindringlinge hielt mir eine Pistole vor die Brust und fragte, wo der Jude sei.

Man suchte hauptsächlich meinen Mann und meinen Bruder Max, die aber beide in der betreffenden Nacht nicht in der Wohnung waren.

Nachdem man sämtliches Porzellan und sämtliche Möbelstücke mit mitgebrachten Beilen und sonstigen Mordinstrumenten zerschlagen hatte, zog die Horde wieder ab.

Der Überfall hat sich in der Nacht dreimal wiederholt. In jedem Fall waren es aber andere verbrecherische Eindringlinge.“
Zitat Ende.

Vera Goldschmidt und ihre Mutter werden von den Einbrechern gestoßen und geschlagen, der SA-Mob stiehlt die Wohnung leer.

Nach der Zerstörung ihrer Wohnung muss Vera in das Ghettohaus am Kanonengraben 4 ziehen, eins von insgesamt 14 solcher Häuser in Münster.

Dort lebt Vera Goldschmidt fast vier weitere Jahre, bevor sie am 13.12.1942 nach Riga deportiert wird. Auf dem Transport befinden sich 390 weitere Jüdinnen und Juden aus Münster, darunter auch der Getreidehändler Paul Schönthal, an den am St. Josefs-Kirchplatz 12 ein Stolperstein erinnert.

In Riga heiraten Vera Goldschmidt und Paul Schönthal. Schönthal wird 1943 im Lager Riga-Kaiserwald ermordet.
Vera Goldschmidt muss im nahegelegenen Armeebekleidungsamt Zwangsarbeit leisten.

Sie muss blutverkrustete deutsche Unformen reinigen und ausbessern, damit das Morden weitergehen kann. Zwischen 1944 und 1947 führt sie die furchtbare Odyssee ihrer unmenschlichen Verschleppung über Danzig, Libau, Hamburg und Kiel in einer Rettungsaktion über Dänemark nach Schweden und von dort schließlich nach Münster zurück.

Zehn Jahre nach der Pogromnacht, dem Auftakt zur Ermordung der europäischen Juden, macht Vera Goldschmidt ihre Aussage vor einem deutschen Polizisten, der schon am 9. November 1938 im Dienst war, Caspar Brinkmann.

Caspar Brinkmann gilt heute als stiller Held, der nicht erst in der Pogromnacht noch Schlimmeres verhinderte und Geflüchtete vor seinen Kollegen versteckte.
Ihm gab Vera Goldschmidt über ihr Erleben der deutschen Polizei in der Pogromnacht zu Protokoll, ich zitiere:

„Ich habe in der Nacht der Revolte zweimal die Polizei angerufen.
Auf meine Anrufe wurde ich befragt, ob ich Jude sei. Nachdem ich diese Frage beantwortete, wurde mir erklärt, dass die Sache dann ihre Richtigkeit habe. Somit waren wir ohne jeglichen Schutz.“
Zitat Ende.

- Somit waren wir ohne jeglichen Schutz. -

Meine Damen und Herren,
meine Phantasie reicht nicht aus, um nachzuempfinden, was in der Shoa-Überlebenden Vera Goldschmidt und dem Polizisten Caspar Brinkmann vorging, als sie diesen Satz in das Protokoll schrieben.

Wir wissen auch nicht, was sie dachten, als in der gleichen Woche des Jahres 1948 der Staat Israel ausgerufen und sofort von allen arabischen Nachbarländern angegriffen wurde.

In der Unabhängigkeitserklärung, die am 14. Mai 1948 aus Tel Aviv live in alle Welt übertragen wurde, sagte David Ben-Gurion über den neuen Staat Israel, ich zitiere:

„Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein.

Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.

Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“

Ich versuche, mir die Überlebende Vera Goldschmidt und den Polizisten Caspar Brinkmann im Büro des
II. Kriminalkommissariats bei der Abfassung des Vernehmungsprotokolls vorzustellen.

Ich versuche mir vorzustellen, was sie gedacht haben mögen, damals, im Mai 1948, ein Jahr vor der Gründung der Bundesrepublik.

Ob sie gehofft und geglaubt haben, dass es auch in einem künftigen Deutschland möglich sein würde, das Versprechen des neuen Staates Israels zu leben?

Gestützt zu sein auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden?

Allen seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung zu verbürgen?

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur zu gewährleisten, und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben?

Und ich versuche mir vorzustellen, was sie heute, vier Wochen nach dem schlimmsten Pogrom seit dem Ende der Shoa, über uns denken würden.

Meine Damen und Herren,
der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur in der Geschichte Israels und damit auch in unserer.

Der ausschließlich auf die Ermordung, Folter und Erniedrigung von Juden gerichtete Überfall der Terror-Organisation Hamas hat auf die unmenschlichste, grauenhafteste Weise ohne jede Ausrede deutlich gemacht, wie bedroht der Staat Israel, wie bedroht jüdisches Leben weltweit und damit auch bei uns ist.

Dieser mörderische Gewaltexzess muss auch dem Allerletzten bei uns klarmachen, dass die vor uns liegenden Wochen und Monate, ja vielleicht Jahre, eine Zeit der Bewährung sein werden.

Wir müssen das Wort von der Sicherheit Israels und jüdischen Lebens als deutscher Staatsräson einlösen, damit es keine Leerformel bleibt.

Wir müssen zu diesem Wort jetzt stehen.
Es gibt kein „ja, aber“.
Nie wieder ist jetzt.

Wer in Deutschland Jüdinnen und Juden bedroht, sich vor jüdischen Einrichtungen zusammenrottet, Parolen an ihre Wände schmiert und Wohnhäuser mit David-Sternen markiert, ist kein Israel-Kritiker, sondern ein krimineller Juden-Hasser.

Wer israelische Flaggen stiehlt, zerstört oder verbrennt, wer Fahnen, Symbole und Parolen der Hamas-Terroristen auf deutsche Straßen trägt, unterstützt niemandes sogenannten Widerstand, sondern ist ein Sympathisant von Terroristen und ein Gegner unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung.

Wer offen zur Schau getragenem Antisemitismus zusieht, dabei wegsieht oder dazu schweigt, ist ein feiger Helfershelfer.

Ich wünsche mir, dass wir uns in diesen Tagen Vera Goldschmidts und Caspar Brinkmanns als würdig erweisen.

Würdig dem Vertrauen der Shoa-Überlebenden, dass jüdisches Leben ohne Angst in Freiheit und Würde in Deutschland möglich ist.

Würdig dem Polizisten, der Freund und Helfer blieb, und dem die Nazis aufgrund seiner Weigerung, an der Ermordung von Juden mitzuwirken, schriftlich bescheinigten, „für den Osteinsatz charakterlich untauglich“ zu sein.

Ich wünsche mir ein Deutschland, dessen Bürgerinnen und Bürger, ganz gleich ob hier geboren oder zugewandert, eines Tages ebenfalls charakterlich untauglich für jede Form von Antisemitismus sein werden.

Dafür will ich mit Ihnen gemeinsam arbeiten.

Nicht eines Tages, sondern heute.

Denn nie wieder muss wirklich jetzt sein.

Vielen Dank.

Andreas Bothe, Regierungspräsident der Bezirksregierung Münster

Portrait

Caspar Brinkmann (1892-1970)

Foto aus der Privatsammlung von Gerda Brinkmann, veröffentlich in der Arbeit „Zwischen Diktatur und Demokratie. Der Polizist Caspar Brinkmann (1892-1970), ein unbekannter Held“ von Jana Theresa Pech (https://www.lwl.org/301av-download/pdf/Pech%20Jana%20Theresa.pdf)

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