Geschichte(n) erleben mit Georg
Jahrgangsstufen 5 – 13
Georg gähnte. Siebte Stunde. Geschichte bei Herrn Kauz. „Für mich ist auch die siebte Stunde“, hatte er sie tatsächlich begrüßt und war dann gleich – wie er sich gern ausdrückte – „in medias res“ gegangen. Mittelalter. Julia war heute dran mit einem Referat über die „Hochmittelalterliche Ostsiedlung“. Sie liebte Geschichte. Und wie immer war sie perfekt vorbereitet.
Georg hörte, wie sie vom Deutschen Orden sprach, von Orten, die heute irgendwo in Polen lagen, von einer riesigen Burganlage, „Marienburg“, er bekam ein paar seltsam anmutende Namen mit: Hermann von Salza, Konrad von Masowien, Winrich von Kniprode und noch einige andere. Julia sagte etwas von einem kolonialistischen Verein alter Männer, von denen keiner für den Friedensnobelpreis tauge. „Aus heutiger Sicht haben die auch reichlich Schaden angerichtet“, hörte er sie und sah zugleich, dass Kauz kritisch die Brauen hochzog.
Georg mochte Julia. Und sie ihn. Aber Georg mochte eben Geschichte nicht. Er hatte nie verstanden, wozu das Fach wichtig sein sollte. Öde, öder, Mittelalter. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Irgendwann hörte er nicht mehr zu, holte sein Smartphone aus der Tasche und widmete sich seinen social-media-Verpflichtungen. Kauz war dermaßen in seinem Element, der würde das eh nicht mitkriegen. Und wenn doch, konnte man immer noch etwas von Internet-Recherche labern. Kauz glaubte einem sowas.
Endlich klingelte es. Alle rafften schnell ihre Sachen zusammen und drängten aus der Klasse. Das Wetter war zu schön, um auch nur eine Sekunde länger in der Schule zu hängen. Georg und Julia hatten sich verabredet, mit den Rädern zum Fluss zu fahren. Sie waren schon fast draußen, als sie die Stimme von Kauz hinter sich hörten: „Georg, kommst du bitte nochmal zurück!“ Widerwillig drehte Georg sich um und schlurfte provokant langsam zum Pult. „Ja?“ „War ja nicht so deine Stunde“, meinte Herr Kauz, „und gar nicht nett, dass du Julia nicht zugehört hast. Du hast wirklich was verpasst. Am schlimmsten ist, dass du nicht mal so getan hast, als würdest du zuhören! Diese Smartphones sind wirklich eine Seuche!“ Georg wollte etwas sagen, aber Kauz war schneller: „Und jetzt erzähl mir bloß nichts von Internet-Recherche!“ Es lief nicht gut für Georg. „Weil Geschichte aber wichtig ist, wenn man die Gegenwart begreifen will“, fuhr Kauz oberlehrerhaft fort, „bereitest du für die nächste Stunde als kleine besondere Lernleistung mal einen richtig fluffigen Vortrag über“, – er hielt inne, sah Georg lange an und schmunzelte dann – „über den Heiligen Georg und all das, was aus seiner Geschichte so geworden ist, vor! Drachentöterlegende, Georgien, England, Kreuzritter und Ordensstaat – von mir aus auch noch Pfadfinder und was dir sonst noch bei der Recherche über den Weg läuft.“ Georg stöhnte auf. „Und komm bloß nicht mit irgendeinem ChatGPT- oder Wikipedia-Kram nebst geklauter PowerPoint hier an! Lass dir von Julia erklären, wie man sowas macht. Und dann lass dir was einfallen!“ Georg überlegte kurz zu erwidern, dass Kauz das gar nicht dürfe, aber er war Gamer genug zu wissen, wann eine Schlacht verloren war. Missmutig schlich er aus der Klasse.
Julia hatte auf dem Gang auf ihn gewartet und durch die offene Klassenzimmertür alles mitbekommen. „Das war’s dann wohl mit unserem Nachmittag“, meinte Georg verzagt. „Quatsch!“, antwortete Julia, „ist doch ein cooles Thema. Wir kriegen das nachher schon hin.“
Wenig später trafen sie sich wieder, fuhren mit ihren Rädern runter zum Fluss, setzten sich auf eine mitgebrachte Picknickdecke und legten los. Zusammen ging das mit Geschichte – wobei: Eigentlich machte Julia die meiste Arbeit, weil sie einfach mehr Ahnung hatte, und Georg saß staunend daneben. Vielleicht sollte er dem Fach doch noch eine Chance geben. Irgendwann meinte Julia: „Pause!“, und sie ließen sich zurückfallen auf die Decke und hörten ein paar Songs ihrer Playlists. Der Heilige Georg musste noch ein wenig auf seine Vollendung warten. Zu „The devil went down to Georgia“ schliefen sie in der wohligen Spätsommersonne ein.
Als Georg wieder wach wurde, war irgendetwas anders. Es roch nicht mehr nach Fluss, man hörte nichts und niemanden mehr und das, worauf er lag, fühlte sich definitiv nicht nach Picknickdecke an. Was war hier los? Langsam öffnete er die Augen: Über ihm blauer Himmel, soweit also alles klar. Aber die sattgrünen, mächtigen Baumkronen gehörten nicht hierher und der Mann, der ihn anlächelte, erst recht nicht. Georg riss die Augen ganz auf: Der Typ sah aus wie die Leute auf den Mittelalterbildern, die Julia am Morgen bei ihrem Referat gezeigt hatte. Schlagartig war Georg hellwach, setzte sich auf und griff erst einmal nach seinem Smartphone. Gott sei Dank: Wenigstens das war noch da! „Wo bin ich?“, stieß er hervor, „und wo ist Julia? Und wer sind Sie?“ „Du kannst mich ruhig duzen“, antwortete der Mann und setzte sich zu Georg auf den Boden. „Ich bin Georg“, sagte er dann. „Georg der Drachentöter, um genau zu sein.“ Georg fiel auf, dass seinem Gegenüber der Kopf ein wenig schief auf dem Hals saß und permanent etwas Blut aus einer Art Riss heruntertropfte. Er starrte auf den Hals. „Es ist nur eine Fleischwunde“, lachte der Drachentöter. „Mir ist der Kopf schon mal abhandengekommen. Lange Geschichte. Und lange her.“ Georg wusste nicht, was er sagen sollte. Das hier war surreal. „Und du bist Georg und musst ein Referat über mich machen, so mit allem Drum und Dran“, fuhr sein Gegenüber fort, „offenbar weil du so heißt wie ich.“ Es wurde nicht besser. „Woher wissen Sie – ich meine, woher weißt du das?“, stammelte Georg. „Julia ist vor dir wachgeworden und hat schon ein bisschen was erzählt“, kam prompt die Antwort. Georg blickte sich rasch um und sah erst jetzt, dass Julia auch auf dem Waldboden saß. „Sie hat mir übrigens auch gesagt, dass Geschichte nicht so dein Ding ist“, sagte der Drachentöter dann. „Und wer Geschichte nicht lernen will, muss sie eben fühlen“, schloss er. Julia lächelte und nickte zustimmend.
Georg musste schlucken. Was war das hier? Mittelerde und Hogwarts gleichzeitig? Und er mittendrin? Gut nur und irgendwie beruhigend, dass Julia an seiner Seite war. „Das hier glaubt mir kein Mensch“, dachte Georg. „Das hier glaubt dir zwar kein Mensch“, nahm der Drachentöter den Gesprächsfaden wieder auf, „aber es wird gut werden! Du brauchst meine Geschichte? Dann sollst du sie kriegen.“ „Ich komme mit!“, sagte Julia bestimmt. Der Drachentöter nickte: „Unbedingt! Wenn’s um Geschichte geht, braucht dein Freund ja offenbar jemanden, der ein bisschen auf ihn aufpasst.“ „Nicht nur der“, erwiderte Julia, „deine Geschichte ist ja bis jetzt auch arg männerlastig erzählt. Mal sehen, ob sich da nicht was machen lässt.“ Sie zwinkerte dem Drachentöter zu. Der lächelte milde, pfiff einmal laut, und schon kamen drei Pferde um die Ecke. Alle hatten eine Georgsflagge anstelle eines Sattels auf dem Rücken. Der heilige Georg liebte offenbar Details.
Der Drachentöter und Julia schwangen sich gekonnt auf ihre Pferde. Etwas unbeholfen und reichlich nervös stieg auch Georg auf. Was würde als Nächstes passieren? Nur eines stand jetzt schon fest: Er würde Kauz und der Klasse eine Geschichte erzählen, die sich gewaschen hatte. Dann ritten sie los. ...
Die Idee zu dem etwas aberwitzigen Geschichtsanfang, den uns der Autor Christopher Wulff in diesem Jahr verfasst hat, geht auf das Schwerpunktland des diesjährigen Wettbewerbs – Georgien – zurück. Die Geschichte von Georg, dem Drachentöter, ist einer der roten Fäden europäischer und eben georgischer Mythengeschichte, so faszinierend wie präsent. Und so phantasiereich wie nur wenige andere Geschichten. Wie geschaffen also für ein Referat. Aber eben auch für eine großartige Fantasy-Geschichte!
Ihr seid gefragt Eure Aufgaben
Jahrgangsstufen 5 – 13
Setzt den Geschichtsanfang fort und bringt die Erzählung zu Ende! Wie ihr weitermacht, das entscheidet ihr selbst: Ihr könnt die Erzählperspektive beibehalten, ihr könnt aber natürlich auch aus der Perspektive Georgs oder Julias in der Ich-Form weitererzählen. Selbstverständlich sind die Geschlechter nicht festgelegt: Auch hier entscheidet ihr! Vielleicht informiert ihr euch, bevor ihr zu schreiben beginnt, über die Georgslegende und darüber, wo und wann sie welche Rolle gespielt hat.
Wie immer bestimmt ihr die Textgattung und -sorte selbst: Roman, Erzählung, Kurzgeschichte, graphic novel, Tagebuch, Briefroman, Filmdrehbuch, Theaterstück etc., etc. – euch sind hier keine Grenzen gesetzt!
Ganz egal für welche Form ihr euch entscheidet, sind zwei Dinge wichtig: Korrigiert euren Text sorgfältig, bevor ihr ihn einreicht, und gebt ihm eine ansprechende äußere Form, die ihn gut lesbar macht.
Viel Freude beim Schreiben!
Fachbereiche
Deutsch, Literatur, Geschichte, Kunst, Religion, Philosophie (auch fächer- und jahrgangsstufenübergreifend, zum Beispiel Arbeitsgemeinschaften für kreatives Schreiben)
Arbeitsformen
Einzelarbeiten, Partnerarbeiten, Gruppenarbeiten