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Literaturcafé
3.5 Literaturcafé
Ende und Anfang
Projekt für die Jahrgangsstufen 8 – 13
Der Lärm war ohrenbetäubend, die Luft stickig und staubig. Sie mussten direkt über dem Haus sein. Und es waren mehr als sonst. Ihr Mund war trocken, auf der Zunge hatte sich ein Film gebildet. Die Haare klebten filzig zusammen. Lotte kauerte in einer Ecke des völlig überfüllten Kellers an der Wand und umklammerte ihren Rucksack. Sie zitterte. Die ohnehin nicht helle Glühbirne an der Decke leuchtete längst nicht mehr. Umrisse vieler Menschen waren zu erahnen. Richtig zu sehen war nichts. Einmal, als die Wand hinter ihr unmittelbar nach einer Explosion vibrierte, wie sie es zuvor noch nie getan hatte, hatte sie gedacht, dass das Haus einstürzt, und vor Angst ein bisschen in die Hose gemacht. Kinder schrien, Mütter – selbst in Todesangst – versuchten, die Kinder zu beruhigen. Irgendwo schrie einer „Ruhe! Verdammt nochmal!“, und sie dachte nur, was für ein Idiot. Als ob das Sterben einfacher würde, wenn Ruhe dabei herrschte. Dass der Mensch seltsam war, dachte sie auch. Und an das, was war. Und gewesen war. An den Vater hatte sie nur noch schemenhafte Erinnerungen.
Der Krieg hatte gerade erst begonnen, da hatte schon der Brief im Kasten gelegen, der zuerst die Mutter und dann auch sie traurig gemacht hatte, aber ihre Traurigkeit war schneller verflogen, weil der Lehrer in der Schule und später die Gruppenführerin im Jungmädelbund keinen Zweifel daran gelassen hatten, dass ihr Vater „ein Held“ sei und sie stolz sein müsse, ja sich sogar glücklich schätzen könne, Tochter eines Mannes zu sein, der für „die große Sache“, für „Führer, Volk und Vaterland“ das Wertvollste gegeben habe, was ein Mensch geben könne, nämlich sein Leben. Sie hatte das geglaubt und ihre Mutter zu trösten versucht. Jetzt, in diesem Kellerloch, arg zersaust, mit nasser Unterhose, zitternd vor Angst, dreckig und hungrig, kam ihr das alles so lächerlich vor. Mutter und sie hatten allein weitergemacht, die Mutter hatte Arbeit gefunden in einer Fabrik, der die Männer kriegsbedingt abhandengekommen waren. Einmal, als sie in der Schule und die Mutter bei der Arbeit war, wurde das Haus, in dem sie wohnten, von einer Bombe getroffen. Danach gab es kein Bild mehr vom Vater. Aber sie hatten schnell eine neue Wohnung und neue Möbel zugewiesen bekommen, weil sie Kriegerwitwe und Kriegshalbwaise waren. Woher Wohnung und Möbel so schnell gekommen waren, hatte sie sich nicht gefragt. Zwischendurch war das Leben wieder ganz normal geworden und hätte immer so weiter gehen können.
Sie hatte die Volksschule abgeschlossen und gerade im BDM ihr Pflichtjahr begonnen, als die Front dann doch bedrohlich näherrückte. Hals über Kopf hatten Mutter und sie ein paar Habseligkeiten, die ihnen wichtig schienen, in zwei Koffer und zwei Rucksäcke gepackt, als es hieß, ein Zug würde noch fahren. „Bloß weg!“, hatte die Mutter gesagt. Im Gedränge rund um den Bahnhof hatten sie einander verloren und sie ihren Koffer. Und als sie nach stundenlanger, quälend langsamer Fahrt in dem völlig überfüllten Zug in dieser Stadt ausgestiegen war, weil es nicht weiterging, hatte sie ihre Mutter nicht finden können. In den Tagen danach hatte sie immer wieder nach ihr gesucht, sich erkundigt, Suchzettel am Bahnhof ausgehängt, aber bald waren die Tage vor allem davon bestimmt gewesen, selber in diesem Chaos irgendwie zu überleben, und manchmal dachte sie gar nicht mehr an ihre Mutter. Sie bemerkte, wie ein paar Tränen über ihre Wangen kullerten und sich mit dem Staub in ihrem Gesicht zu einer körnigen, feuchten Masse verbanden. Mit dem Ärmel ihrer schmutzigen Jacke wischte sie sich über die Wangen. Es kam nicht mehr darauf an. Es kam auf gar nichts mehr an.
Irgendwann hörte das Brummen auf, hatten die Flieger ihre unheilbringende Fracht abgeladen. Als Lotte endlich mit all den andern aus dem Keller kroch, war von der Straße wenig übrig. Rauchsäulen, hier und da noch Feuer. Glassplitter überall. Möbelteile. Verkohlte Körper waren zu sehen. Ein kaum erträglicher Gestank lag über der Stadt. Menschen liefen orientierungslos umher. Andere suchten in den Trümmern nach Überbleibseln dessen, was einmal ihr Leben gewesen war.
Sie hatte nichts mehr zu suchen hier. Sie war in der Stadt gestrandet, weil der Zug, in dem sie gesessen hatte, nach einem Angriff einfach hier stehengeblieben war. Mehr Verbindung gab es nicht. Sie hatte ihr Leben andernorts zurückgelassen.
Obwohl: Konnte man sein Leben überhaupt irgendwo zurücklassen? Konnte man ohne Wurzeln weitermachen? Sie erschrak für einen Moment darüber, dass sie solche Gedanken hatte, während um sie her Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz standen, Tote beklagten, sich um Verwundete kümmerten. Andererseits: Das hatte sie hinter sich. Wieviel Leid hielt der Mensch aus? Sie ging zum Flussufer und wusch ihre Unterhose aus und schämte sich nicht, weil es nichts gab, wofür sie sich hätte schämen müssen.
An den Tagen und in den Nächten danach blieb der Himmel stumm.
Und dann hieß es plötzlich, es sei vorbei. Der Krieg sei aus. Ende. Jemand verteilte Streifen eines zerrissenen Bettlakens, um daraus weiße Armbinden zu machen. Man könne nie wissen. Lotte band ihren um den linken Arm. Das war ein Anfang. Von was auch immer. Der Rest würde sich zeigen.
...
Der Geschichtsanfang, den uns der Bochumer Autor Christopher Wulff in diesem Jahr verfasst hat, greift ein historisches Datum auf, dass sich 2025 zum achtzigsten Mal jährt: das Ende des Zweiten Weltkrieges, der, von Deutschland entfacht, wie kein anderer Krieg zuvor, Zerstörung, Vernichtung, Leid und Unglück, Flucht und Vertreibung über die Menschen in Europa gebracht hat und zugleich Ausgangspunkt ist für den einzigartigen Versuch, die Menschen in Europa, in der Europäischen Union, in Frieden und Freiheit zu vereinen. Wie verletzlich Frieden und Freiheit sind, zeigt die Geschichte bis in die Gegenwart immer wieder. Dabei ist es immer so, dass auf der einen Ebene Politik gemacht wird, während auf der anderen Ebene Menschen ihr Leben zu leben versuchen. Genau darum geht es in der Geschichte. Einem Ende folgt ein Anfang. Wie der aussieht für Lotte, wo er passiert, ob sie ihre Mutter wiederfindet, ob sie in den Ort zurückkehren kann, aus dem sie ursprünglich kommt, ob sie jemanden kennenlernt in einer ähnlichen Situation, mit dem sie gemeinsam nach dem Weg in irgendeine Zukunft sucht oder ob sie die nächsten Schritte auch allein gehen muss – all das entscheidet ihr!
Eure Aufgaben
Jahrgangsstufen 8 – 13
Setzt den Geschichtsanfang fort und bringt die Erzählung zu Ende! Wie ihr weitermacht, das entscheidet ihr selbst: ihr könnt die Erzählperspektive beibehalten, ihr könnt aber natürlich auch aus Lottes Perspektive in der Ich-Form weitererzählen. Selbstverständlich dürft ihr die wenigen Hinweise darauf, dass es sich bei Lotte um eine Deutsche handelt, ignorieren und Kriegsende und Neuanfang aus der Perspektive eines Menschen aus einem anderen Land und an einem anderen Ort erzählen. Und wenn ihr meint, dass die Protagonistin kein Mädchen sein oder anders heißen soll, dann ändert auch das entsprechend! Vielleicht informiert ihr euch, bevor ihr zu schreiben beginnt, über den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit. Möglicherweise gibt es in eurem Umfeld sogar noch Menschen, die ihr tatsächlich befragen könnt.
Wie immer bestimmt ihr die Textgattung und -sorte selbst: Roman, Erzählung, Kurzgeschichte, graphic novel, Tagebuch, Briefroman, Filmdrehbuch, Theaterstück etc. – euch sind hier keine Grenzen gesetzt!
Ganz egal für welche Form ihr euch entscheidet, zwei Dinge sind wichtig: Korrigiert euren Text sorgfältig, bevor ihr ihn einreicht, und gebt ihm eine ansprechende äußere Form, indem ihr ihn gern illustriert, heftet oder bindet, ein Layout wählt, das euren Text gut lesbar macht und dergleichen mehr.
Lasst eurer Kreativität beim Schreiben freien Lauf!
Fachbereiche
Deutsch, Literatur (Film), Geschichte, Kunst, Darstellen und Gestalten (auch fächer- und jahrgangsstufenübergreifend)
Arbeitsformen
Einzelarbeiten, Gruppenarbeiten, Partnerarbeiten, Facharbeiten (siehe Projekt 6.1)
Weitere Projekte
Viele weitere Projekte findet ihr in den anderen Themenbereichen. Schaut einfach mal hinein, ob ihr weitere spannende Aufgaben findet.